Warum ist Selbstempathie wichtig? Was macht Selbstempathie, Selbstfreundlichkeit, Selbstannahme mit unserem Gehirn? Um das zu verstehen, möchte ich ein wenig ausholen. Heute  möchte ich erklären, wie unser Gehirn funktioniert.[i]

Unser Gehirn besteht grob gesprochen aus drei Teilen. Der 1. Teil ist der Hirnstamm, das Reptiliengehirn. Das Reptiliengehirn ist zuständig für alles, was automatisch geschieht. Dieser Teil reguliert so ziemlich alles, was es so in unserem Körper biologisch zu regulieren gibt. Und da gibt es eine ganze Menge.

Der 2. Teil ist das Limbische System. Das hilft uns unsere Emotionen zu verarbeiten, uns zu erinnern und uns zu binden. Es hilft uns auch auf Gefahren zu achten.

Dann gibt es noch den Präfrontalen Cortex, kurz PFC. Das ist der Teil unseres Gehirns, der zuständig ist für unsere Interpretation der Welt. Er speichert Empfindungen und Wahrnehmungen und hilft uns die Bewegungen unseres Körpers zu steuern. Dieser Teil ist es auch, der uns befähigt zu planen, zu denken und schwierige Probleme zu lösen.

Was passiert bei „Gefahr“?

Die Amygdala[ii] (zu deutsch Mandelkern) ist so etwas wie der selbsternannte Chef des emotionalen Gehirns. Man kann sich das wie eine Art „emotionaler Feuermelder“ vorstellen. Dieser Teil unseres Gehirns filtert und sortiert alle Erfahrungen nach Ähnlichkeiten mit gefährlichen Situationen der Vergangenheit, indem sie permanent zwei Fragen stellt:  Bin ich in Sicherheit? Bin ich wichtig? Immer wieder und wieder die selben Fragen: Bin ich in Sicherheit? Bin ich wichtig?  Wenn eine dieser Fragen nicht positiv beantwortet wird, schlägt sie Alarm und veranlasst unser System zu Kampf oder Flucht. Dabei reagiert sie unglaublich schnell. Und leider ist sie nicht sonderlich genau in ihrem Urteil. Es ist ihr egal, ob es eine echte Gefahr ist oder eben nicht. Manchmal genügt ein Satz oder gar ein Wort, eine Geste oder ein Duft, um eine schmerzhafte Erinnerung auszulösen.

Während die Reaktionszeit der Amygdala 0,03-0,05 Sekunden beträgt, kommt der Reiz allerdings erst nach etwa einer halben Sekunde (also mindestens zehnmal später) bei unserem Großhirn an. Wenn wir Pech haben und die Amygdala in der Zwischenzeit Alarm geschlagen hat, dann kommt mitunter gar nichts mehr in unserem Großhirn an, weil dieses sicherheitshalber ausgeschaltet wurde. Und das lässt sich sogar im MRT nachweisen.

Was bedeutet das für uns heute?

Diese biologisch einst sehr sinnvolle Art mit Gefahren blitzschnell umgehen zu können, verursacht uns heute oft Probleme. Weil nicht ein Raubtier um die Ecke gebogen ist, sondern unser Partner, der irgendetwas vielleicht völlig Harmloses sagt oder tut, das unsere Amygdala an eine lang zurückliegende Situation erinnert. Wir können in dem Moment nicht denken und reagieren einfach. Je weniger ein Mensch jedoch als Kind Wärme und Zuneigung erfahren hat, umso weniger stark sind die vom PFC zur Amygdala laufenden Verbindungen ausgeprägt und umso schneller und heftiger reagiert dieser Mensch auf äußere Reize.

Warum ist Selbstempathie wichtig?

Gibt es auch eine gute Nachricht? Ja, das gibt es. Sie lautet „Neuroplastizität“, d.h. unser Gehirn ist veränderungsfähig. Jeder Mensch, auch Erwachsene, bildet jeden Tag Tausende neuer Neurone bzw. Verbindungen zwischen Neuronen. Bis zu unserem letzten Atemzug können wir unser Gehirn tatsächlich verändern. Wenn unser PFC unsere Amygdala unterstützt und ihr hilft sich zu beruhigen und zu regulieren (und sei es erstmals nur im Nachhinein), sind wir in der Lage, auf die eigenen starken Emotionen (Ängste,  Verärgerungen und Sorgen) allmählich mit mehr Flexibilität, Fürsorge, Resonanz, Wärme und Feinfühligkeit zu reagieren.

Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Bild, das wir von uns selbst haben, und aktivieren dabei gleichzeitig unsere Fähigkeit zu sanftem Mitgefühl, dann kultivieren wir eine neue Art mit uns selbst umzugehen. Wenn wir uns selbst, und vor allem unsere Emotionen und Gefühle, regelmäßig mit Freundlichkeit und Mitgefühl wahrnehmen und diese liebevoll annehmen und für die Erfüllung unserer Bedürfnisse sorgen, dann gestalten wir uns selbst tatsächlich allmählich neu.

Warum also ist Selbstempathie wichtig? Ich hoffe, ich konnte es erklären. Nichts wie los. Es gibt keinen besseren Grund Selbstempathie zu praktizieren als unser Gehirn dazu aufzufordern, sich zu verändern und zu einem Ort zu werden, „an dem es sich besser leben lässt“. Rosenberg sagt dazu: „Eine einfühlsame Haltung ist nicht einfach immer da, sondern entsteht immer wieder, wenn wir gut für uns sorgen.“

[i] Die meisten Informationen für diesen Beitrag habe ich aus dem Buch von Sarah Peyton entnommen: „Selbstresonanz. Im Einklang mit sich und seinem Leben. Erkenntnisse aus Neurobiologie, GFK und Traumaforschung“. Erschienen 2019 im Junfermann Verlag.

[ii] Eigentlich sind das „die Amygdalen“, wir haben nämlich zwei davon.